Wie erleben Sie Ihren Auftrag als Seelsorger am EVZ (Empfangs –und Verfahrenszentrum) in Kreuzlingen?
Ich bin als Pfarrer einfach sehr gerne unter den Menschen in unserer Kirchengemeinde Lengwil. Einmal in der Woche aber freue ich mich eben auch, für einige Stunden als Seelsorger für Menschen aus aller Herren Länder da zu sein. «Was für ein Kontrastprogramm! Welten begegnen sich!» – so denke ich mir dann manchmal. Ich bin als Kind in Indonesien aufgewachsen und habe auch später dort jahrelang gelebt und gearbeitet. Deshalb ist mir die Minderheitserfahrung sowohl als Ausländer wie auch als Christ mitten in einem islamischen Land nicht fremd. Die Erfahrungen aus diesen Jahren haben mir Mut gemacht, mich auf diesen Dienst einzulassen, den wir als Kirche im Asylzentrum (korrekt: Empfangs- und Verfahrenszentrum EVZ) wahrnehmen.
Was fällt Ihnen auf bei den Menschen, denen Sie als Seelsorger begegnen?
Wenn ich mich nicht ganz täusche, dann gibt es da augenblicklich viele Ängste auf allen Seiten. Manche dieser Menschen, die bei uns Asyl suchen, haben Fürchterliches erlebt.
Gleichzeitig fürchten sie sich aber auch vor dem, was sie hier in der Fremde erwartet. Und natürlich gibt es auch bei uns viele Ängste. Wir fürchten uns vor Überfremdung, sowohl kulturell wie auch religiös, erst recht auf dem Hintergrund islamistischer Terrormeldungen, die uns fast täglich erreichen. Solche Ängste auf beiden Seiten gilt es wirklich ernst zu nehmen. Die lassen sich nicht einfach weg reden oder verdrängen.
Und wie gehen Sie selbst damit um?
Es wäre schöner, man könnte das Rad einfach wieder zurück drehen. Aber in einer globalisierten Welt rücken uns auch die globalen Themen viel näher, als uns das lieb ist.
Und da gilt es natürlich, besonders wach und sensibel zu sein für die Situation in den Herkunftsländern, aus denen diese Menschen zu uns kommen und sich auch entsprechend zu engagieren. Aber als Seelsorger hier vor Ort erlebe ich die eigentliche Herausforderung darin, die Begegnung mit einem so fremden Menschen auch für mich selbst immer wieder als eine wirklich bereichernde Chance zu begreifen. Mir selber gelingt es nur so, in diesen Begegnungen aufgeschlossen und offen zu bleiben, selbst für die teils sehr traumatischen Erfahrungen, mit denen manche dieser Menschen hierher kommen.
Was heisst das denn für Sie als Christ?
Für mich als Christ ist eine der wichtigsten Lektionen aus meiner eigenen Erfahrung in einer religiösen Minderheit, dass Glaube nie einfach nur Privatsache ist. Was jemand sagt, tut oder lebt, wird immer auch durch das beeinflusst, was er oder sie glaubt. Das ist für die allermeisten Länder, aus denen diese uns noch fremden Menschen kommen, eine völlig normale Lebenshaltung. Und deshalb lautet die eigentliche Anfrage nicht nur von Menschen aus der islamischen Welt: «Inwieweit hat eigentlich das, was du als Mensch des Westens glaubst, eine Bedeutung und Auswirkung auf das, was du lebst?» Auch wenn es augenblicklich noch kaum so wahrgenommen wird: Ich bin überzeugt, dass langfristig die unmittelbare Begegnung mit Menschen anderer Religion in unserer eigenen Nachbarschaft uns mehr und mehr bewegen und herausfordern wird, sprachfähiger zu werden auch im Blick auf unseren eigenen Glauben.
Was bedeutet das für Ihre eigene Begegnung mit den Menschen im EVZ?
Es ist eigenartig, dass eine der häufigsten biblischen Aufforderungen lautet: «Fürchtet euch nicht!» bzw. «Fürchte dich nicht!» Natürlich lässt sich das nicht einfach so vorschreiben. Und deshalb wird da meist auch eine Begründung mitgeliefert. So rufen etwa die Engel in der Weihnachtsgeschichte. «… denn Euch ist heute der Retter geboren!» Oder es heisst: «… denn ich, der Herr, dein Gott, bin mit dir!» Die Begegnung mit dem Fremden ist grundsätzlich nichts, wovor man sich fürchten muss. Sich fragen zu lassen und selber feinfühlig nachfragen, so beginnt jede Begegnung. Ich finde das sehr Mut machend auch im Blick auf die oft nicht leichten Gespräche mit den Menschen im EVZ.